Mein Opa erzählt fast nie vom Krieg.
Er wird bald 95 und lebt seit anderthalb Jahren im Heim, zum Glück in der Nähe meiner Eltern, zum Glück in einem Haus, in dem sich die Mitarbeiter mit Herz um ihre Gäste kümmern, zum Glück mit einer Chefin, die durch rigoroses Regiment Corona bisher fernhalten konnte. Er darf das Heim seit Monaten nicht verlassen und nur eine Person zu Besuch haben, nur einmal die Woche, nur für 30 Minuten, mit zwei Metern Abstand. Seit dem ersten Lockdown telefonieren wir fast jeden Tag. Es sind meisten nur zwei, drei Minuten. Oft habe ich nichts zu erzählen und gelegentlich muss ich brüllen, weil sein Hörgerät nichts durchlässt.
Im ersten Lockdown hat er mich manchmal getröstet und mir wieder Mut gemacht, wenn ich am liebsten ausflippen wollte. Und dabei weiß ich manchmal gar nicht, worauf er noch wartet. Ich habe so viel, was ich wieder tun will – ich will wieder reisen, ich will Freunde sehen, ich will kinderfreie Wochenenden, ich will tanzen gehen, ich will Konzerte, ich will Fips in den Kindergarten bringen, ich will freie Zeit für mich, ich will Spinnern wieder berlintypisch mit tolerant-ignorantem Scheißdochdrauf begegnen statt mich zu fragen, was an Mund-Nasen-Schutz-Tragepflicht eigentlich so verdammt schwer zu verstehen ist.
Und an manchen Tagen will ich bloß meine eigenen Gedanken wieder hören. Keine vierhundert Fips-Fragen pro Minute beantworten. An manchen Tagen klingeln mir die Ohren, weil dieses kluge, heißgeliebte Mini-Mundwerk einfach niemals stillsteht. An manchen Tagen möchte ich ausrasten, weil ich alle Aktivitäten um diesen kleinen Menschen herumbauen muss und keine Sekunde verantworungslos sein kann. An manchen Tagen wiegt die ungeteilte Last von Bindungsorientiert, von Lebensliebe teilen, von Zusammensein einfach zum Ausflippen schwer. Mein introvertiertes Einsiedler-Ich sehnt sich nach einer verdammten Pause.
Für mich allein wäre der Lockdown ein Nichts. Oder nur ein Wenig. Eine notwendige Zwangspause, in der ich jede Menge lesen würde, spazierengehen, eben zuhause Musik hören, Schreiben, im Haus rumkramen, kochen, Malen nach Zahlen, vielleicht sogar telefonieren. Mir würde einiges fehlen, aber ich würde es auch genießen, nach einer Runde Yoga mit Netflix und Fastfood auf dem Sofa zu hängen.
Aber Fips mit Youtube und Junk auf dem Sofa zu parken, funktioniert nur bedingt. Und bringt obendrein ein völlig durchgeknalltes Kind sowie ein maximal schlechtes Muttergewissen zustande. Manchmal kriege ich nichts anderes mehr auf die Reihe, aber es fühlt sich falsch an. Ich sollte als gute Mutter mehr tun, mit besserer Laune, mit leichterer Hand. Ich werde meinen eigenen Maßstäben nicht gerecht, entschuldige mich mit Ausnahmesituation, weil manchmal einfach nicht mehr geht, und will dabei einfach nur raus – weg, und zwar schnell. Und weit.
Mein Opa spricht fast nie vom Krieg. Aber als die Verlängerung des harten Lockdowns kam, erzählt er, dass er mit dreizehn Jahren jede Nacht im Keller verbrachte während draußen die Bomben fielen. Mehr sagt er nicht.
Sehr gut beschrieben!
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