Schön, schlank, Statussymbol: Warum Frauen dünn sein sollen

In dem Beitrag “Eine Geschichte weiblicher Schönheit” habe ich berichtet, wie sich das ideale Körperbild der Frau von der rundlichen Venus mit allen prallen Merkmalen der Fruchtbarkeit über die möglichst asexuelle Figur des Mittelalters und den Korsettwahn bis hin zu den ersten “dünnen” Frauengestalten des 20. Jahrhunderts entwickelte.

Heute geht es darum, wieso Hungern für Frauen schließlich zum guten Ton dazugehörte, welche Rolle die Frauenbewegung dabei spielte und welche Macht das Sprichwort “Wer schön sein will, muss leiden” bis heute über uns hat.

Im Schatten des Ehemannes

Bis über das Mittelalter hinaus gab es nur wenige Ausnahmen selbstbestimmter Frauen: Im Mittelalter musste eine Frau entweder heiraten oder ins Kloster gehen. Zwar gab es Fälle, in denen weibliche Adelige den Familienbesitz verwalteten und ihre Männer bei Entscheidungen berieten. Auch Äbtissinnen konnten in ihrem Amt beachtliche Macht ausüben sowie kirchlichen, politischen und sozialen Einfluss erlangen. Doch offiziell und in der Regel waren Frauen den Männern untergeordnet. 

So ist es nicht verwunderlich, dass zwei berühmte Frauen des Mittelalters aus dem Kloster heraus wirkten: Die Rede ist hier von der heilkundigen Nonne Hildegard von Bingen (1098-1179) sowie der Dichterin und Historikerin Roswitha von Gandersheim (935-973).Das Leben als sogenannte “Begine” waren eine der wenigen Ausnahmen, den sozial festgelegten Rollen als Ehefrau und Mutter zu entkommen: Diese Frauen lebten allein oder in Gemeinschaften ein religiöses Leben, allerdings außerhalb eines Klosters. Dieses war zwar nicht mit Klausur, Ordensregeln oder einem dauerhaft bindenden Gelübde verbunden, umfasste aber eine Verpflichtung zur Keuschheit und intensive Frömmigkeit. Eine Begine war also ebenfalls nur bedingt “frei”.

Die gewünschte Rolle war immer noch die der Ehefrau und Mutter. Ihre Fruchtbarkeit definierte den Alltag und den Wert der Frau – und noch Martin Luther sagte im Jahr 1522: “Man sieht, wie schwach und ungesund die unfruchtbaren Frauen sind, die aber fruchtbar sind, die sind gesünder, reinlicher und lustiger. Ob sie sich aber auch müde und zuletzt tot tragen [in der Schwangerschaft], das schadet nicht, lass nur tottragen, sie sind drum da.”

Die Frauenbewegung entwickelt sich

Erst ab der Französischen Revolution veränderte sich die Ansichten langsam: Die erste Phase der Frauenbewegung im 18. Jahrhundert war stark von dem Wahlspruch “Egalité” und “Liberté” beeinflusst – also der Betonung der Gleichheit und Freiheit aller Menschen, sowie den Ideen der Aufklärung. 

Doch diese Stimmung resultierte noch lange nicht in Taten: “Die Ideen der Frauenbewegung waren da, aber für Frauen in dieser Zeit gab es kaum eine Möglichkeit, sich zu organisieren oder sich politisch zu betätigen”, so formuliert es ein Dokument der Friedrich-Ebert-Stiftung. Allerdings machten sich die ersten Frauen daran, ihre Ideen auch umsetzen zu können, unter ihnen z.B. Louise Otto-Peters. Sie gilt mit ihrer im Jahr 1843 öffentlich formulierten Forderung „Die Teilnahme der Frauen an den Interessen des Staates ist nicht ein Recht, sondern eine Pflicht“ und mit ihrer “Frauen-Zeitung” als die Mitbegründerin der bürgerlichen deutschen Frauenbewegung.

Wie bei der Französischen Revolution kämpften auch bei der 1848er Revolution in Deutschland die Frauen Seite an Seite mit den Männern für Freiheit und Umsturz. 

Stetiger Fortschritt trotz großer Rückschläge

Nach dem Scheitern des Aufstands wurde ihr Anspruch auf Gleichheit jedoch erneut ignoriert und unterdrückt: Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 untersagte das preußische Vereins- und Versammlungsgesetz im Jahr 1850 allen „Frauenpersonen“, an politischen Versammlungen teilzunehmen und politischen Vereinen beizutreten.

„Wo sie das Volk meinen, zählen die Frauen nicht mit.“

Louise Otto-Peters

Im selben Jahr musste Louise Otto-Peters auch ihre Frauen-Zeitung wieder einstellen, die sieben Jahre wöchentlich erschienen war. Ein neues Gesetz – das wie zum Hohn der Louise Otto-Peters “Lex Otto” genannte wurde – untersagte Frauen, Zeitungen herauszugeben oder als Redakteurin zu arbeiten. 

Doch Otto-Peters gab nicht auf und gründete 15 Jahre später den „Allgemeinen deutschen Frauenverein” (ADF) und schuf so ein Organ für organisierte Frauenbewegung in Deutschland. Dabei ging es ihr vor allem um das Recht der Frauen auf eine existenzsichernde Erwerbsarbeit, auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit und verbesserte Bildung für Mädchen. Dafür verfasste sie weiterhin Artikel und äußerte sich in verschiedenen Büchern über die von ihr festgestellten Missstände.

Mit ihrem unermüdlichen Einsatz steht sie nicht allein: 

  • Die Schriftstellerin Hedwig Dohm tritt in den 1870er Jahren ebenfalls für gleichberechtigte Bildung und Ausbildung für Mädchen und Jungen, für weibliche Erwerbstätigkeit und explizit für das Stimmrecht für Frauen ein.
  • Auch die Politikerin Clara Zetkin (1857-1933) kämpfte ebenfalls für eine Verbesserung der Lohnsituation, für Arbeitszeitverkürzung, für eine Verbesserung des Arbeits- und Mutterschutzes und für das allgemeine, gleiche und freie Wahlrecht auch für Frauen. 
  • Rosa Luxemburg (1871-1919), der wohl bekannteste Aktivistin, ging es bei ihrem Kampf für eine gerechte Gesellschaft außerdem um ein Zusammendenken von Sexismus, Rassismus und Klassismus. 

Kurz: Die Stimmen werden lauter, die Sprecherinnen bekannter: Die Frauenbewegung wird immer präsenter und auch im Alltag immer mehr Thema für Frauen aller Schichten. Parallel dazu erleben Deutschland und Europa einen geradezu rasanten Wandel durch die industrielle Revolution. Auch die Gesellschaft verändert sich: Während Monarchie und Adel an Bedeutung verloren, stieg das Bürgertum auf und auch das Proletariat gewann – nicht unbedingt an wirtschaftlicher Macht, aber doch an politischer Schlagkraft. Entsprechend hatte die Arbeiterschaft schon bei der Revolution 1848 reichlich Ärger gemacht. Dabei wollten die (neuen) mächtigen Männer nichts weniger als Konkurrenz und Einmischung – nicht vom “Fußvolk”, und auch nicht von ihren Frauen. 

Die Qualitätsmerkmale der Frau

Gehen wir noch einmal kurz zurück in die Geschichte: Während der Epoche des Matriarchats waren die Frauen das Zentrum ihrer Gruppe. Ihr Zyklus symbolisierte das Werden und Vergehen der Natur und ihre Gebärfähigkeit galt als ein Werk der Göttin. Durch Klimaänderung und Völkerwanderung übernahmen die Männer die Vormachtstellung. Frauen verloren ihre mystisch bedeutsame Position: Sie wurden Ehefrau, Mutter und Hausfrau, wurden als Handelsware getauscht, als Kriegsbeute vergewaltigt und entführt ( → alle Details kannst Du in “Die Gesellschaft der Großen Mutter” und den Folgetexten nachlesen).  

Der Wert einer Frau ergab sich dabei aus zwei Faktoren: Einer war die Fähigkeit, schwanger zu werden und ihrem Mann einen Stammhalter zu gebären. Der andere war ihr Aussehen.

Anders gesagt: Wer schön(er) war, hatte bessere Chancen auf Überleben und das bisschen Achtung, das von der einstmals als heilig geschätzten Weiblichkeit noch übrig war. Frauen begannen also, sich “schön zu machen” und sich an die Normen eines gesellschaftlich vorgegebenen Körperbildes anzupassen.

Der Status im Spiegel der Weiblichkeit

Dabei war nicht nur der Wert der Frau von ihrem Aussehen abhängig: Auch der Status des Mannes war – in gewissem Maß – davon abhängig, inwieweit die Frau in seinem Besitz dem gängigen Schönheitsideal entsprach. Wer eine “hässliche” Frau ehelichte (die dann womöglich nicht einmal in der Lage war, Kinder zu bekommen), der sah sich dagegen mit einem sinkenden Ansehen und abfälligen Sprüchen konfrontiert. 

Mit einer hübschen Frau dagegen konnte man(n) etwas darstellen. Noch im 17. Jahrhundert bedeutete eine wohlgenährte Frau, dass der Herr des Hauses wohlhabend genug war, um die Seinen zu ernähren – nur wer arm war, hatte nicht genug zu essen. Auch das spätere Korsett ließ sich ähnlich interpretieren: Wer seine Frau so einschnüren konnte, dass sie kaum noch in Lage war zu atmen, war nicht auf ihre Arbeitskraft angewiesen – wer sich das nicht leisten konnte, war offensichtlich arm.  Anfang des 20. Jahrhunderts veränderte sich hier jedoch einiges, wie ich in “Eine Geschichte weiblicher Schönheit” beschrieben habe. Zum einen wurde die Mode für Frauen bewegungsfreundlicher – Coco Chanel schuf ab 1913 als Erste eine ausdrücklich funktionelle Damenkleidung mit wadenlangen Röcken, luftigen Hosen (!), losen Oberteilen. So entfernte sich das ideale Körperbild von der klassischen Stundenglasfigur mit weiblichen Kurven hin zu einer schmalen Silhouette. Schön – und damit zuträglich für den Status des Mannes – war nun eine Frau, die dünn war.

Damit veränderte sich die Maxime, wie Wohlstand zu zeigen war, ins Absurde: Wer reich war, aß nun nicht mehr besonders gut, sondern gar nicht. Aber während reiche Männer sich durchaus noch ein Wohlstandsbäuchlein gönnen durften, sollten ihre Frauen stellvertretend Mahlzeiten auslassen: Sie musste nicht arbeiten, brauchte also keine Kraft und also auch keine regelmäßige Nahrungszufuhr – wer den Teller ohne Rücksicht auf die Figur leeren musste, um seine Arbeitskraft zu erhalten, war arm.

Essen ist Lust – pfui!

Die Idee von der nicht-essenden Frau war buchstäblich ein Rückfall ins Mittelalter: Damals propagierten religiöse Fanatiker einen wahren Ekel davor, dass Frauen bei irgendetwas Lust und Wonne empfanden. Sie sollten fruchtbar sein und sich mehren – durften aber im Bett noch weniger Freude empfinden als ihr Mann. 

Sich beim Essen lustvoll etwas in den Mund stecken war in den Augen der Kirche fast dasselbe wie Spaß im Bett – nämlich Sünde pur. Mit diesem kulturellen Hintergrund, der Frauen seit Generationen beim Essen begleitet hatte, fiel der neue Schlankheitsgedanke auf idealen Nährboden.

Warum Frauen dünn sein sollen

Hinter dem nahezu pervertierten Ansatz, seine Frau für die eigene Wohlstandsdarstellung hungern zu lassen, steckte aber noch mehr als nur eine Mode: In ihrem Buch “Der Mythos Schönheit” schreibt Naomi Wolf dazu, dass das Idealbild extremer Magerkeit mit dem Aufstieg von Frauen in gesellschaftliche, ökonomische und politische Machtpositionen zusammenfällt. 

Wir erinnern uns: Die Französische Revolution jedoch hatte einen Stein ins Rollen gebracht und die Frauenbewegung schien trotz aller Reglementierungen kaum noch aufzuhalten. Die einzige Option, hier noch auf die Bremse zu treten, war die jahrtausendealte Programmierung der Frau auf “Schönheit”. Denn dem neuen, schlanken Ideal konnte frau nur gerecht werden, indem sie ihre Ernährung tagtäglich kontrollierte. 

Statt sich voller Tatendrang mit Ideen zur Gleichberechtigung zu beschäftigen, wurde die moderne Frau so von einem ständigen Hungergefühl beherrscht, das jeden sinnvollen Gedanken unmöglich machte. Wer als Frau nur noch an seine “schlanke Linie” denkt, wer ständig über Essen und Nicht-Essen grübelt, kann keine Revolution starten – und auch sonst keine Ansprüche stellen. Sie konnte den Männern also deutlich weniger in die Quere kommen – wie großartig!

Der Mythos von “den Männern”

Kurze Unterbrechung: Ich sträube mich immer, “das Patriarchat” pauschal wie ein denkendes, machtgieriges Individuum zu präsentieren. Aber in diesem Fall fällt es mir extrem schwer, mir zumindest die (männlichen) Wirtschaftslobbyisten der Zeit nicht die Gestalt eines händereibenden Super-Bösewichts vorzustellen. Denn die Idee, die Frauenbewegung durch Hungern zu bremsen, scheint fast zu gut, um ungeplant zu sein! 

Doch ob dieser letzte Schritt wirklich zu einem handfesten Konzept gehört oder sich so einfach wie genial ergab…? Ich möchte es nicht beurteilen. Tatsache ist allerdings, dass die Idee, Schönheit mit leidvollen Praktiken zu verknüpfen, die sich massiv auf die Lebensqualität und damit auf das Denkvermögen auswirken, unbestreitbar eine lange Tradition besitzen. Hungern mag neu sein, das Konzept ist es nicht.

“Wer schön sein will, muss leiden”

“Wer schön sein will, muss leiden” – Abwandlungen dieses Sprichworts sind bereits in Otto von Reinsberg-Düringsfelds Sammlung “Die Frau im Sprichwort” von 1862 dokumentiert.

Doch das dahinterliegende Verständnis galt schon viel länger, wenn man sich anschaut, welche Qualen Frauen zu diesem Zeitpunkt bereits seit Jahrhunderten auf sich nahmen, um einem imaginären und stetig wechselnden Ideal zu entsprechen. 

Doch wieso gehört Leid dazu? Wenn man das Hungerprinzip und die daraus resultierende körperliche Schwäche anschaut, scheint es klar zu sein: Wer schön sein muss/will und Leid als den Weg zu dieser Schönheit akzeptiert, ist keine Gefahr für die herrschende Gruppe. Frauen, mit dem Umfang ihrer Taille beschäftigt sind, können wenig bis nichts anderes wollen, wünschen und erreichen. Das Konzept der Diät ist da bis heute praktisch unschlagbar.

Nichts essen reicht nicht

Anders gesagt: Kalorienzählen ist extrem wirksam, um Frauen mit sich selbst beschäftigt zu halten. Ich bin eher körperneutral aufgewachsen und trotzdem ist mein Gewicht eine dauerhafte Sorge für mich. Jede Frau, die ich kenne, beschäftigt sich mehr oder weniger intensiv mit der Frage “Bin ich zu dick?” bzw. “Bin ich richtig, so wie ich bin?”. 

Nicht jede Frau hungert, aber wir alle haben Zahlen, Maße, Idealformen da im Kopf, wo wir sonst (mehr) Platz für Karrierepläne, politische Ideen oder kreative Projekte haben könnten. Oder einfach Stille. Kraft. Vertrauen in uns selbst. 

Doch beim Diät-Konzept dreht es sich längst nicht mehr darum, dass wir uns so leichter beherrschen lassen. Im aufkeimenden Kapitalismus damals und in unserer Konsumgesellschaft heute geht es vor allem um maximalen Gewinn. Eine Frau, die lediglich nicht isst, konsumiert aber nichts – und das war schon in den 1920ern schlecht für die Wirtschaft. Deswegen bestand eine der ersten Herausforderungen für die Werbeagenturen, die ebenfalls in dieser Zeit gegründet werden, darin, aus dem Verzicht-Prinzip eine Umsatzmaschinerie zu machen. 

Sie lösten dieses Problem aber bravourös – und so nachhaltig, dass es unsere Gedanken und unser Leben bis heute beherrscht. Wie das vor sich ging, erfährst Du im nächsten Beitrag: “Cellulite & Bodyshaming: Über die besten Erfindungen der Werbeindustrie”.

* Das Thema Schönheit ist komplex, oft belastend und tief in unserer Kultur verwurzelt, gerade bei Frauen und Mädchen. Aus meiner Recherche für diesen Post ist inzwischen ein größeres Projekt entstanden. Schau doch mal rein bei “Wir sind schön”.

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