Der „Babykurs“ oder (offiziell) „Geburtsvorbereitungskurs“ ist ja etwas als Keuch- und Hechelveranstaltung verschrien. Meine Hebamme hatte allerdings schon angekündigt, dass wir maximal eine Viertelstunde Atemtechniken üben würden und so erwartete ich bei unserem Wochenendkurs ein paar Worte zur Geburt und vor allem viel Aufklärung in Sachen Babypflege.
Stattdessen gab es viel Anatomie, ein wenig Aufklärung in Sachen Gynäkologie und Geburt, einige Tipps zur Reduzierung der Erstausstattungsliste und vor allem viele, viele Anekdoten. „Wieso erzählt sie soviel?“, habe ich mich am Anfang gefragt. Doch dann wurde mir langsam klar, dass die kleinen Geschichten nicht nur der Unterhaltung, sondern vor allem der Angstminderung dienten – und der Tatsache, dass es viele Wege zur Geburt gibt.
Die Geburt: Stiefkind der Gynäkologie und Medizin
Mit diesem Thema hat sich unsere Hebamme am ersten Tag bei einem der anwesenden Väter (und angehendem Mediziner) etwas unbeliebt gemacht. Sie erklärte uns, dass es im Mittelalter vor allem Bader und Chirurgen gegeben hätte: Es ersteren sind die heutigen Heilpraktiker entstanden und aus letzteren haben sich alle medizinischen Richtungen einschließlich der Gynäkologie entwickelt. Hebammen allerdings gab es schon damals und ihr Wissen um Heilkräuter, manuelle Therapien und dergleichen hat sich bis heute erhalten.
Während Gynäkologen in ihrer Ausbildung lernen, was im akuten Krisen- und Ausnahmefall zu tun ist, lernen Hebammen so etwas wie das Gegenteil: Während Ärzte darauf trainiert sind, Probleme zu beseitigen, sehen Hebammen natürliche Lösungen und Möglichkeiten. Eine Beckenendlage ist also kein Fall für den Kaiserschnitt, sondern bei einem guten Verlauf nur eine andere Geburtsposition; ein kurzes Schwächerwerden der Herztöne bedeutet keinen Notfall, sondern möglicherweise nur, dass das Kind per Greifreflex die Nabelschnur abdrückt (und gleich wieder loslässt).
Auch aus Hebammensicht gibt es Geburten, bei denen ein medizinischer Eingriff notwendig und unerlässlich ist. Ja! Und dann ist es auch gut, dass geholfen werden kann. Aber: Es muss nicht jede Situation, die nicht dem Bilderbuch entstammt, gleich zu PDAs, Kaiserschnitten und Notfall-Interventionen führen – es gibt auch andere Möglichkeiten, die mit Zeit, der richtigen Atemtechnik, Homöopathie und dem richtigen Mindset der werdenden Mutter zusammenhängen.
Dem werdenden Arzt gefiel das nicht – mir schon. Ich weigere mich, Geburt als eine medizische Katastrophe zu verstehen. Denn wenn das der Normalfall wäre, wären wir doch alle nicht hier.
Die weibliche Anatomie und der Weg des Babys
Mithilfe eines Beckenmodells und einer Puppe demonstrierte die Hebamme anschließend den Weg des Babys bei der Geburt. Ich habe immer gedacht, dass es einfach nur nach unten geht. Doch tatsächlich scheint es hier auf Seiten des Neugeborenen instinktives Wissen zu geben, wie dieser Weg vereinfacht werden kann.
Nicht nur, dass der Kopf durch die noch weichen Fontanellen an Umfang reduziert werden kann: Das Kind dreht sich auf dem Weg durch das Becken sogar mehrmals leicht, um den Sitzbeinen und dem Steißbein auszuweichen bzw. mit seinem Kopf den maximal möglichen Platz auszunutzen.
Die Anekdoten: Atmen und Loslassen
Die meisten kleinen Geschichten unserer Hebamme drehten sich um das Zusammenspiel der Eltern bzw. der Anwesenden im Kreißsaal und die Fähigkeit der Mütter, unter den Wehen loslassen zu können. Ich will nur zwei davon kurz wiedergeben, weil ich sie sehr beeindruckend fand:
„Es gab einmal eine Frau, die im Kreißsaal mit einem champagnerfarbenen Negligé im Bett leg, während ihr Mann im Nadelstreifenanzug daneben saß. Beide gehörten offenbar zur gehobenen Mittelschicht, waren als Karrieremenschen eher leistungsorientiert und hatten einander offenbar auch noch nicht häufig in schwachen Momenten gesehen: Denn auch während der Wehen äußerte die Frau weder Schmerz, noch Anstrengung, sondern atmete flach und schnell durch die Nase: miiii-miiii-miiii. Die Geburt war bereits seit 12 Stunden im Gang und der Muttermund hatte sich kaum geöffnet. Beim Schichtwechsel beschlossen die Hebammen, den Mann in die Cafeteria zu schicken – er solle aber in 20 Minuten wiederkommen. Der Frau sagten sie, sie solle auf die nächste Wehe ’so krass reagieren wie sie sich anfühle‘. Die Frau folgte dieser Ansage und als ihr Mann wiederkam, war sie nicht mehr in der Lage, in ihre wohlerzogene Ausgangsatmung zurückzukehren. Im Gegenteil: Sie kompensierte jede Wehenanstrengung lauthals, sie atmete – und nach einer halben Stunde war ihr Kind da.“
Warum mich das beeindruckt hat? Weil auch ich ein Leistungskind bin. Ich muss alles kontrollieren, ich muss mich kontrollieren – und genau das wird während der Geburt vermutlich nicht möglich sein. Da muss ich etwas anderem als meinem Kopf vertrauen. Ob ich das schaffe? Das ist meine Angst – und Stoff für einen weiteren Beitrag über Geburt in der Leistungsgesellschaft.
Der weltbeste Ehemann dagegen fand folgende Geschichte am eindrucksvollsten. Er hatte zwar von Anfang an gesagt, dass er mit in den Kreißsaal wolle; aber offenbar waren da doch eine Menge Ängste (meine Schmerzen, seine Hilflosigkeit, Körperflüssigkeiten, Gerüche…), die er mir gegenüber verborgen hatte und welche die Hebamme mit ihrer Anekdote tatsächlich lösen konnte. Bei der Geschichte ging es übrigens um ihren eigenen Partner:
„Bei den Voruntersuchungen hatte er mich immer beim Krankenhauspförtner abgeliefert und war dann in heller Panik geflohen. Zur Geburt stellte ich ihm also frei, ob er mit in den Kreißsaal käme, und wenn, würde ich ihm jederzeit erlauben zu gehen. Er musste mir nur versprechen, dass er mich bis zur Kreißsaaltür bringen würde – alles andere durfte er selbst entscheiden. Tatsächlich blieb er während der Geburt bei mir, kühlte mein Gesicht mit einem Waschlappen, gab mir Wasser und war einfach stundenlang und ruhig da, wenn die Hebamme es nicht sein konnte. Nur einmal verließ er den Kreißsaal und als er wiederkam, hockte ich ausgerechnet in diesem Moment im Vierfüßlerstand mit dem Po zur Tür und er schaute frontal auf den sich hervorarbeitenden Kopf meiner Tochter. Hunderten von Vätern habe ich diesen Anblick erspart – nur meinem eigenen nicht! Doch für ihn bedeutete es in diesem Moment keinen Schock für ihn, sondern Freude: Er wusste, dass ich den Schmerz bald hinter mir hätte und das machte ihn einfach froh.“
Die Hebamme erklärte, dass viele und auch skeptische Väter oft in den Geburtsvorgang „hineinwachsen“ und dann Dinge, vor denen sie sonst fliehen würden, nicht mehr als eklig, bedrohlich oder überfordernd wahrnehmen würden. Es sei wie ein Verkehrsunfall, bei dem man ohne nachzudenken helfen würde. Das beruhigte den Mann ungemein und am zweiten Tag des Geburtsvorbereitungskurses war er schon wieder zu Scherzen aufgelegt. Mal sehen, ob er zur Geburt auch noch Witze macht!
Nähe ist Liebe
Ein Thema, das mich auch noch sehr aufgewühlt hat, ist die Liebe zum Baby und wie man sie zeigt. Als Kinder der 80er sind wir größtenteils mit Stillen alle vier Stunden und einfach Schreienlassen, die gewöhnt sich aufgewachsen.
Dass heute gestillt wird, wann immer das Baby hungrig ist, ist vermutlich die „einfachste“ Übung. Abendliches Schreien nicht als Terroraktion oder elterliches Versagen zu werten, wird sicher schon schwieriger: Doch die Hebamme erklärte, dass Säuglinge wie jeder Mensch nach einem langen Tag ihre Eindrücke verarbeiten müssen – und das geschehe durch Schreien, weil es einfach noch keine andere Möglichkeit zur Kommunikation gäbe.
Was sie dann brauchen? Das ähnelt unseren eigenen Bedürfnissen: Wir wollen ja auch, dass uns zugehört wird. Wir wollen nicht – schtschtscht! – mundtot gemacht werden, sondern wir wollen ausreden und in den Arm genommen werden.
Alleinlassen sei für Säuglinge das schlimmste, was man ihnen antun könne. Deswegen sei eine offene Tür beim Mittagsschläfchen und nachts ein schnarchender Papa im Nebenbett eigentlich das Beste, was passieren kann: So weiß der Mini immer, dass Mama und Papa da sind. Und ja – dieses Gefühl, dass unsere Liebe für Fips nichts verlässliches, sondern etwas Brüchiges sein könnte, bricht mir fast das Herz. Nicht nur aus Schwangerschaftshormonen heraus hätte ich in diesem Moment heulen können.
Doch dieses kleine neue Leben ist eine Chance, es besser zu machen. Eine Chance, jeden Tag zu lieben – bedingungslos, ohne Forderungen und ohne Anspruch auf Richtigkeit. Und ich werde sie nutzen, mein Fips, das verspreche ich dir ❤
Eine tolle Hebamme! Und tolle Gedanken! Ihr werdet das super machen!
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Nicht wahr? Ich bin richtig traurig, dass nicht sie mit uns in den Kreißsaal kommt… das wäre perfekt gewesen.
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