Cellulite & Bodyshaming: Über die besten Erfindungen der Werbeindustrie

Stell dir vor, du schaust dein Spiegelbild an, ohne den Begriff “Problemzone” zu kennen. 

Stell dir vor, du könntest deinen Körper einfach sehen, wie er ist – Arme, Beine, Bauch, Brust, Po, Rücken, Gesicht. Ohne Bewertung, ohne ein “Ideal” im Hinterkopf, ohne den Wunsch nach Optimierung oder Veränderung. 

Ich erinnere mich nicht, wann ich meinen Körper zuletzt wertungsfrei betrachtet habe. Seit meiner Teenagerzeit, bis heute, zerlege ich mich optisch in Einzelteile und beurteile meine “Schwachstellen”. Statt zu feiern, was mir gefällt, fällt mir nur auf, was unerwünscht wellt, wackelt oder wächst – überall Baustellen. 

Doch woher kommt der Gedanke, dass unser Körper überhaupt “Bearbeitung” nötig hat? 

Tatsächlich ist der Gedanke, dass wir uns selbst optimieren müssen, im großen Umfang noch relativ neu: Er existiert seit etwa 100 Jahren und fällt damit mit dem Aufschwung der modernen Werbung zusammen. Zufall? Wohl eher nicht. Dieser Beitrag macht sich auf Spurensuche, wieso Bodyshaming zur besten Verkaufsstrategie wurde.

Schön und schlank: Die Frau als Statussymbol

Dass die Schönheit unserer Körper überhaupt so wichtig ist, ist der Rolle der Frau im Patriarchat geschuldet: Als Statussymbol fällt ihr Wert umso höher aus, je hübscher sie ist – als Ehefrau, als Mutter, als Tauschware oder Kriegsbeute. Was als hübsch gilt, verändert sich jedoch im Lauf der Zeit: Der Beitrag “Eine Geschichte weiblicher Schönheit” beschäftigt sich mit den Kriterien, welche über die Jahrhunderte unsere Vorstellung von einer attraktiven Frau beeinflusst haben. 

In “Warum Frauen dünn sein sollen” habe ich zusammengefasst, welchen Einfluss die Frauenbewegung auf diese Sichtweise nimmt: Ab Ende des 19. Jahrhunderts wollten Frauen gleichberechtigt mit den Männern handeln. Das führt einerseits zu mehr Freiheiten, wurde andererseits aber auch als Angriff auf den männlichen Machtanspruch gewertet. Parallel entstand auch eine neue Anforderung an die weibliche Schönheit: Frauen sollten jetzt schlank sein, dünn, und um das zu erreichen, wurde die Nahrungszufuhr eingeschränkt – sprich: Es musste Diät gehalten werden.

Dem Patriarchat kam diese neue Entwicklung zugute: Denn wer nicht isst und dem Körper damit ein Grundbedürfnis verweigert, nähert sich nicht nur dem neuen, dünnen Idealbild, sondern muss auch ständig an Essen bzw. Nicht-Essen denken. Die ideal dünne Frau war also nicht nur eine vorzeigbare “Trophäe”, sondern hatte außerdem weder Zeit noch Kraft, eine Revolution zugunsten der Gleichberechtigung zu planen. Der Trend zur Schlankheit schlug also quasi zwei Fliegen mit einer Klappe!

Und mit ein bisschen Geschick kam er sogar der Wirtschaft zugute – aber davon später.

Eine kurze Geschichte der Diät

Diäten – bzw. Mittel und Ideen, die das “Dick-Sein” verhindern sollten – gab es schon länger. Schon der griechische Arzt Hippokrates (ca. 460 v. Chr. bis 370 v. Chr.) widmete sich dem Thema der Diätetik. Wichtig zu wissen: Ihm ging es dabei vor allem um die richtige und gesunde Art zu leben und nicht grundsätzlich ums Abnehmen. Das Wort “Diät”, was wir heute vor allem mit Gewichtsverlust assoziieren, stammt vielmehr vom griechischen Begriff „diaita“ ab, was soviel wie Lebensweise bedeutet. 

Dennoch: “Dicke werden seit Jahrhunderten geschröpft”, erläutert die britische Medizinhistorikerin Louise Foxcroft. Auch schlankmachende Kräuterwässerchen waren schon um 1650 im Umlauf. Besonders Frauen, die mit Genuss aßen, wurden in der frommen Gesellschaft mit Abscheu betrachtet. Dabei ging es jedoch nur teilweise um die Sünde der Völlerei und mehr um die der Wollust, der fleischlichen Begierde, welche vor allem den “ehrbaren” Frauen absolut nicht gestattet war.

So waren Nahrungsrestriktionen zunächst oft eher religiöser Natur: So wollte etwa der presbyterianische Priester Sylvester Graham seine Anhänger in den 1830ern mit einer möglichst fade schmeckenden Ernährung vor der Sünde der Fleischeslust bewahren (ja, das ist genau der mit den Graham-Crackern, die wir heute so oft für schicke No-Bake-Rezepte benutzen). 

Auch der Dichter Lord Byron (1788-1824) übernahm die Abscheu vor der lustvoll essenden Frau. Er behauptete: “Man sollte Frauen niemals essen oder trinken sehen, es sei denn Hummersalat und Champagner.” Stattdessen propagierte er Essig als seinen persönlichen Abnehmtrick, und das recht erfolgreich. Denn nicht nur Byron selbst war eher schlank. Auch viele Künstler:innen seiner Zeit waren (allerdings aufgrund von Tuberkulose!) eher abgemagert, was von ihren Anhänger:innen bewundert und begeistert nachgeeifert wurde.

Echte Radikalkuren zugunsten der Figur waren jedoch nur etwas für exzentrische Wohlhabende – die arbeitende Bevölkerung brauchte ihre volle Arbeitskraft zum Überleben und konnte sich solch überdrehte Kapriolen nicht leisten. “Alltagstauglicher” und damit verbreiteter wurden gewichtsreduzierende Ernährungskonzepte jedoch in den 1890er Jahren als ein Bestattungsunternehmer (welche Ironie aus heutiger Sicht!) namens William Banting die erste Low-Carb-Diät erfand. 

Banting hatte eigentlich nur im Sinn, seine eigenen Erfolge bei der Gewichtsabnahme zugunsten einer gesünderen Lebensweise zu teilen und wollte keinen kommerziellen Gewinn daraus schlagen. Dennoch gab seine Diät den Startschuss für eine Vielfalt von Ernährungsrestriktionen – das Verb „to bant“ übernahm man im Englischen sogar als Synonym für „Diät halten“. Auch in Deutschland wurden seine Empfehlungen unter der Bezeichnung “Banting-Kur” bekannt und in einer zeitgenössischen Ausgabe von Mayers Konversationslexikon als „neue Methode zur Heilung der übertriebenen Wohlbeleibtheit und der Fettsucht“ geführt.

Aus Beschreibungen wie dieser entwickelte sich schnell ein neues Narrativ: Es stellte weniger das erfolgreiche Abnehmen als die negativen Eigenschaften in Verbindung mit vorhandenem Körperfett in den Vordergrund. Kurz gesagt: Wer mehr Kilos mitbrachte, galt schon bald als übermäßig, ungesund und faul.

Mehr Freiheiten – weniger Bauchumfang

Wie beschrieben erfreute sich die Banting-Kur als erste kommerzielle Diät ab den 1890er Jahren wachsender Beliebtheit. In den “Goldenen Zwanzigern” des letzten Jahrhunderts verbreitete sich der Schlankheitsgedanke dann u.a. durch die moderne Jugendbewegung der sogenannten Flapper radikal in allen Bevölkerungsschichten.

Die Historikerin Margaret A. Lowe  dokumentiert eine entsprechende Veränderung in der Ernährung, die vor allem Rohkost unter den jungen Leuten in Mode brachte: Der Verbrauch von Kartoffeln ging zurück, während mehr Sellerie, Tomaten und Salat gegessen wurden. 

Sehr beliebt war auch die sogenannte “Hollywood-Diät”, mit dem angeblich die Stars und Sternchen der Filmindustrie ihre grandiosen Figuren bewahrten. Während dieser Diät durften für 18 Tage lediglich 600 Kalorien täglich verzehrt werden – in Form von Orangen, Grapefruits, Toast und Eiern. Tausende eiferten wieder einmal ihren Idolen nach, und zwar so fanatisch, dass sich sogar die Speisekarten mancher Restaurants nach diesem Konzept ausrichten. Sogar Bulimie wurde unter den Flappern allgemein als probates Mittel betrachtet (und empfohlen), um endlich den idealen Körper zu erreichen.

Lowe formuliert: “Die Beschränkungen für Dating, Tanz und Sex wurden gelockert (…), doch es gab neue Einschränkungen: Designer wie Coco Chanel setzten auf eine schlanke Silhouette. Die Badezimmerwaage […] wurde zu einem festen Bestandteil des Haushalts und die Medien begannen, Fett als das Ergebnis mangelnder Willenskraft darzustellen.”

Dicksein war nun endgültig kein Zeichen von Wohlstand mehr – Dicksein bedeutete nun ein für alle sichtbares Versagen.

Dazu trugen auch beliebte Zeitschriften wie die Vogue bei, die mit ihrer Perspektive die Sichtweise unzähliger Frauen auf ihre Körper prägte: “Es gibt ein unverzeihliches Verbrechen gegen die Ästhetik der Schönheit, und es ist besser, eine ganze Reihe von Bagatelldelikten zu begehen, als sich des Fettwerdens schuldig zu machen”, heißt es etwa in einem Artikel aus dem Jahr 1918.

Dünnsein galt dagegen ab sofort als Schlüssel zu Erfolg und Schönheit. Wer von Natur aus schlank war, bekam diese Eigenschaften gratis zugeschrieben. Alle anderen mussten etwas dafür tun, am besten schnell. Wir erinnern uns: Wir befinden uns in den 20er Jahren, also im aufkeimenden Kapitalismus. Und so reichte es natürlich nicht, für die Idealfigur einfach weniger zu essen: Idealerweise mussten Produkte konsumiert werden, die – bestimmt! – schneller und nachhaltiger wirken würden als ein leerer Magen.   

Wer schön sein will, muss konsumieren 

Zuerst eine kurze Reise durch die Geschichte der Werbung: Bereits im Mittelalter priesen Marktschreier die Produkte der Händler an – diese Methode war zwar wirkungsvoll, aber auf das Hier und Jetzt des Kaufes beschränkt. Erst in den 1850er Jahren entstand mit dem professionellen Annoncen-Markt eine Methode, die zeit- und ortsunabhängig Produkte bewerben und verkaufen konnte. 

Dieser Annoncen-Markt war in Deutschland übrigens eine Folge der Pressefreiheit: Zeitungen und Zeitschriften waren auf die Einnahmen durch ihre Anzeigenkunden angewiesen, um publizieren zu können. So entwickelten sich bald die ersten sogenannten Vermittlungsinstitute und aus ihnen die ersten Werbeagenturen, die eine professionelle Anzeigengestaltung betrieben. 

Offensive Präsentation in neuartig großen Schaufenstern, die Erfindung der frei stehenden Werbesäule durch Ernst Litfaß, erste Lichtreklamen… Die nachfolgenden Jahrzehnte brachten eine rasante Entwicklung der Werbelandschaft mit sich. Dazu gehörte auch, das Augenmerk des Konsumenten nun ganz bewusst auf bestimmte Hersteller, also auf bestimmte Marken, zu lenken und deren Produkte ganz besonders in den Vordergrund zu rücken. 

Bildliche Darstellungen wurden schnell zum maßgeblichen Bestandteil: „One picture is worth a thousand words“, so formuliert es im Dezember 1921 eine Anzeige, die in der Fachzeitschrift „Printer’s Ink“ für den Gebrauch von Bildern für Werbung auf Straßenbahnen wirbt. Den Betrachter:innen wurde also direkt vor Augen gestellt, wie das jeweilige Produkt aussah und welchen Vorteil ihnen der Kauf bescheren würde. 

In den 1930er Jahren kam dann noch eine weitere Komponente dazu, welche zum Kauf bewegen soll: Ab sofort spielen die Werbeagenturen bewusst mit den Emotionen der Konsument:innen. 

Werbeanzeigen entstanden dabei für alle erdenklichen Erzeugnisse – Bücher, Kleidung, Medizin, Lebensmittel, Autos, Spielzeug und vieles mehr. Auch Produkte, die Aussehen, Figur und Erscheinungsbild optimieren sollen, waren von Anfang an mit dabei und wurden mit großer Kreativität vermarktet. 

Hier spielt die emotionale Komponente bis heute eine besonders wichtige Rolle: “Alle Werbung verkauft uns zwei Dinge: das Idealbild und das Produkt, mit dem wir es erreichen”, schreibt Megan Jayne Crabbe. Dabei konzentriert sich die Werbung aus ihrer Sicht damals wie heute bewusst auf das ohnehin fragile Selbstbewusstsein der Frauen: “Das weibliche Schönheitsideal ist das beste Marketingprogramm der Welt. Man muss nur der Hälfte der Welt einreden, sie sei hässlich, und ihr dann die Lösung verkaufen.”

Und so heißt es nicht mehr nur, dass leiden muss, wer schön sein will. Nein, wer schön sein will, muss konsumieren – und dafür sind der Werbeindustrie auch die miesen Tricks recht.

Bodyshaming als professionelle Verkaufsstrategie

In den “Goldenen Zwanzigern” veränderte sich Europa rasant. Die Industrie boomte. Das Nachtleben war glamourös, die Kleider kürzer denn je und die angesagte Bewegung der Flapper zelebrierte einen befreiten, wilden Lifestyle. Eine schmale Silhouette gehörte dazu, um in dieser modernen Welt gut auszusehen – und das machten sich Hersteller, Medien und Marketingagenturen mit großer Wirksamkeit zunutze.

Die Journalistin Laura Fraser formuliert: “In den 1920er Jahren fanden die Werbeagenturen ein Problem, das sichtbar genug war, dass Frauen sich dessen schämen konnten, [das] schwierig genug war, um den Kauf vieler verschiedener Produkte zu erfordern, und [das] vor allem niemals verschwinden würde: Fett.”. Banting hatte den Grundstein gelegt, um das Bewusstsein für Diäten zu öffnen – jetzt wurde der Mythos vom faulen Dicken professionell und flächendeckend vermarktet. Die neue Verkaufsstrategie hieß Bodyshaming!

In allen Zeitschriften, auf allen Werbeflächen und stets präsent im Blickfeld, befanden sich Anzeigen für Abnehmprodukte und Heilmittel gegen die gefürchtete Fettleibigkeit – von Abführmitteln und Diätpillen mit gefährlichen Nebenwirkungen über Vibratoren gegen Fettzellen bis hin zu Badesalzen, Massagebürsten, Cremes und Seifen. Auch Shapewear wurde angepriesen: Starre Korsetts waren zwar nicht mehr in Mode, doch aus neuartigen, elastischen Materialien gab es vergleichsweise komfortablere Modelle, die “überflüssige Pfunde” optisch überformen sollten. Die Einführung von Konfektionsgrößen* und Gewichtstabellen vergrößerten ebenfalls den Druck, sich einem vorgegebenen Ideal bestmöglich anzunähern. 

Die Wirksamkeit der Produkte und Methoden war dabei beinahe zweitrangig: Zeigten sie Erfolg, folgte trotzdem der nächste ultimative Trend – versagten sie, hatte frau es wohl nur nicht hart genug versucht. In jedem Fall war der Kauf weiterer Mittel nötig. 

Jeder sollte ständig Selbstoptimierung betreiben – sprich, ständig weitere Hilfsmittelchen kaufen und damit Umsatz in die Kassen spülen. Und während aufmerksame Betrachter:innen beim frühen Anzeigenwesen noch die Überhandnahme „Schmutz und Schwindel” beklagten, setzten sich die Botschaften der Anzeigen mit der Zeit nachhaltig in den Köpfen der Menschen fest: Die Körperwahrnehmung wurde zunehmend von den verzerrten Idealen der Werbung geprägt. 

Eine kurze (Zwangs-)Pause vom Diätgedanken fand in der Kriegs- und Nachkriegszeit statt, als die Menschen mehr mit dem Überleben als mit ihrem Taillenumfang beschäftigt waren. Doch schon in den 1950er Jahren legte die Industrie mit doppelter Kraft nach: Vor allem Frauenzeitschriften verwandelten sich in regelrechte Handbücher voller Diättipps, Rezepte und Vorher-Nachher-Geschichten, gepflastert mit Produktanzeigen, und einer zunehmend schwammigen Grenze zwischen Anzeigentext und redaktionellen Beitrag. Die neue Erfindung des Fernsehens trug ebenfalls dazu bei, dass der Verkauf von Diätmitteln aller Art praktisch zum Selbstläufer wurde – bis heute.

Die unterbewusste Ansicht, dass Fett ein Anzeichen von Völlerei, schlechter Gesundheit und Faulheit ist und daher absolut zu vermeiden bzw. zu vernichten sei, haben wir tief verinnerlicht: Laut einer statista-Untersuchung hatten im Jahr 2022 über 19 Millionen Personen in Deutschland Interesse an Diäten und Diätprodukten – das ist fast jede:r vierte Einwohner:in. Eine Studie von marktforschung.de gibt an, dass schon jede zweite Frau eine Diät hinter sich hat. Und wenn ich überlege, wie oft ich selbst auf etwas verzichtet oder meine Ernährung verändert habe, ohne das “offiziell” Diät zu nennen, dürfte die Dunkelziffer weit, weit höher liegen. 

Damit beeinflusst der Gedanke an unser Gewicht unseren Alltag maßgeblich, doch Industrie und Werbung genügt natürlich nicht, dass wir uns nur um Kilos und Kalorien sorgen. Um mehr zu verkaufen, werden neue “Problemzonen” einfach erfunden.

* Konfektionsgrößen wurden eingeführt, um die industrielle Herstellung von Kleidern zu vereinfachen, welche dann in Kaufhäusern erstmals auch ohne Kaufabsicht anprobiert werden konnten. Zuvor musste jedes Kleidungsstück beim Schneider bestellt und nach den individuellen Maßen mit Kaufverpflichtung angefertigt werden. Die zugrunde gelegten Maße unterscheiden sich von Land zu Land, bei verschiedenen Herstellern und teils sogar von Kollektion zu Kollektion – eine echte Orientierungshilfe sind Konfektionsgrößen also nicht.

Ein Beispiel: Wie weibliches Bindegewebe zu Cellulite wurde

Kleine Dellen an den Oberschenkeln: Sie gehören schon immer zum möglichen Erscheinungsbild des weiblichen Körpers. Wikipedia schreibt: Es ist “eine konstitutionell bedingte, nicht entzündliche Veränderung des subkutanen Fettgewebes im Oberschenkel- und Gesäßbereich. […] Die Cellulite kommt fast ausschließlich bei Frauen vor, da Männer eine maskuline Struktur des Bindegewebes [d.h. eine festere Muskulatur in hautnahen Schichten] besitzen. Bei Übergewicht oder schwachem Bindegewebe kann die Hauterscheinung schon in jungen Jahren auftreten, mit fortschreitendem Alter bekommen Cellulite in unterschiedlichem Ausmaß 80-90% der Frauen.”

Diese sachliche Erklärung sollte eigentlich klarmachen, dass fast alle Frauen Cellulite haben. Doch ich vermute fast, dass es euch beim Lesen ebenso geht wie mir: Was hängenbleibt, ist nicht “80-90% aller Frauen”, sondern “bei Übergewicht”. Sprich: Meine Dellen sind meine Schuld, ich bin einfach zu dick! Ich muss diszipliniert daran arbeiten, dann geht das auch weg! Und schon ist die nächste Diät halb geplant, die nächste Massagebürste oder teure Creme fast gekauft. 

Doch tatsächlich war Cellulite nicht immer ein “Problem”. Genau genommen es das erst seit 1973, denn in diesem Jahr erschien (wieder einmal in der Vogue) ein Artikel, in dem die New Yorker Beauty-Salon-Besitzerin Nicole Ronsard die natürlichen Hauterscheinungen als “entstellend” bezeichnete. Auch die New York Times druckte Ronsards Ansichten zum “falsch angesetzten Fett”. Beide Magazine erreichten zahllose Leserinnen und erzeugten so eine Art Massenpanik – denn wie wir wissen, besitzen 80-90% der Frauen die kleinen Dellen und die 10-20% ohne Dellen wurden durch die Beiträge quasi in Angst versetzt.

Ronsard dürfte das sehr gefreut haben, denn zufällig verkaufte sie in ihrem Salon auch gleich das rettende Produkt gegen die selbsterfundene Plage. Auch ihr Buch zum Thema Cellulite wurde ein Bestseller, und so stehen wir heute, 50 Jahre später, immer noch vorm Spiegel und zwicken und quetschen die Haut an unseren Beinen zwischen den Fingerspitzen.

Money makes the beauty world go round

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Die Werbebotschaften richten sich nicht nur an Frauen. Auch Männer wurden mit Anzeigen zur Körperpflege (im engeren und weiteren Sinn) überschwemmt und auch das hat mit Sicherheit Spuren hinterlassen.

Doch dass diese Anzeigen im Kontext des Patriarchats entstehen, hat spezielle Auswirkungen auf Frauen: Zum einen stehen hinter den auftraggebenden Firmen meist Männer, die durch wirkungsvolleres Marketing ihre Gewinne maximieren wollen – und die Aussicht auf Geld kann skrupellos motivieren. Je beschämter die Konsumentin sich durch eine Werbung fühlt, desto größer der Umsatz!  

Zum anderen zeigt sich auch hier wieder die Ansicht von der Frau als Statussymbol. Die meisten Darstellungen arbeiten (damals wie heute) nach dem Prinzip des sogenannten männlichen Blicks bzw. des male gaze, der Frauen auf ihren optischen Wert und ihren Reiz für das männliche Geschlecht reduziert. Das angepriesene Produkt soll diesen Wert steigern und den Reiz erhöhen – das davon unabhängige Befinden der Frau und ihr Wert als Mensch an sich spielen keine oder nur eine nachgeordnete Rolle. 

Entsprechend lassen sich Werbung und Industrie immer neue Dinge einfallen: Make-up zum Abdecken und Highlighten, Anti-Aging-Produkte, Mittel gegen Körpergeruch aller Art, zur Intimpflege, zur Haarentfernung – von den Optionen der modernen Chirurgie ganz zu schweigen. Die Liste ist nahezu endlos und dasselbe gilt für die Gewinne der Schönheitsindustrie, die stetig steigen. 

Eine statista-Untersuchung zum Konsumverhalten der Deutschen im Jahr 2022 ergab etwa stetig steigende Ausgaben im Bereich Körperpflege: Gegenüber dem Vorjahr 2021 waren die Ausgaben um 12,5% gestiegen und erreichten mit insgesamt 38,65 Mrd. Euro sogar den bislang höchsten, dokumentierten Wert. 

Interessant ist, dass die Ausgaben im “offiziellen” Diätbereich dagegen zurückgehen – so muss z.B. das über Jahrzehnte sehr beliebte Diät-Programm “Weight Watchers” zunehmend Verluste beim Kursgebühren und Produktverkäufen verzeichnen. 

Heißt das, dass wir den Abnehm-Gedanken langsam überwunden haben? Wohl eher nicht. Die Ausgaben werden vermutlich eher in andere Konsumbereiche verlagert – zum Beispiel in den Bereich der Fitness-Apps. Für diese wird im Jahr 2024 weltweit ein Umsatz von etwa 6,27 Mrd. Euro so wie weiterhin ein jährliches Wachstum von mehr als 10% erwartet. Auch in Deutschland steigt der Umsatz mit Wearables (Fitnesstrackern) und entsprechenden Apps rasant.

Aktuelle Diät-Trends setzen weniger auf spezielle Hilfsmittelchen als auf “gesunde” Ernährungskonzepte oder auf die Nahrungsaufnahme zu bestimmten Zeiten (Intervallfasten). Besonders beliebt sind Low Carb, Keto (= kohlenhydratarm, aber fettreich), Low Fat, die “Mittelmeer-Diät” (= mediterrane Lebensmittel) und Paleo (= Verzicht auf Getreide, Hülsenfrüchte, Zucker und Milchprodukte). Auch dafür gibt es wieder besondere Apps und hier ist der Umsatz ebenfalls kontinuierlich rasant im Aufschwung. 

Dazu kommen unzählige Fitness-Influencer:innen, die uns auf Instagram, YouTube und Co. rund um die Uhr sogar kostenlos mit Fitness-, Ernährungs- und Beauty-Content versorgen: Auch wenn diese Welt freundlicher erscheint als die brachiale “Ein Doppelkinn zerstörte ihr Leben!”-Annonce aus dem Jahr 1930 – die Botschaft bleibt dieselbe: Wir, besonders wir Frauen, sollen unsere Problemzonen in den Griff kriegen, um etwas wert zu sein.

Der Idealkörper – Motivation und Hemmschuh

Doch egal, wie viele Produkte wir kaufen und wie viele Programme wir befolgen: Wir werden nie ideal sein. Wir werden nie schön genug. Immer wieder wird es eine neue “Problemzone” geben, ein neues Mittel, eine neue Methode, ein neues Training. Wir werden niemals ankommen – und wir sollen auch niemals ankommen. Sonst würden wir ja aufhören zu konsumieren und das Prinzip des Kapitalismus komplett an der Nase herumführen.

Also her mit dem schlechten Gewissen! 

Dabei bewegen wir uns im Kreis, denn was schön ist, wird immer neu definiert – oder anders gesagt: Unsere Vorstellung von makelloser Schönheit wird willkürlich festgelegt und ständig wieder aufs Neue bestimmt. Und so ist das Idealbild, was uns als Motivation und Orientierungshilfe präsentiert wird, ist in Wirklichkeit unsere größte Bremse. Warum wir trotzdem felsenfest an den Mythos von Schönheit und Glück glauben und was das mit dem Pretty Privilege zu tun hat, darum geht’s dann im nächsten Beitrag!

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