In Teil 1 “Die Gesellschaft der Großen Mutter” habe ich über den Wert der Frau zur Zeit des Matriarchats gesprochen. Heute geht es weiter mit den Veränderungen im Zeitraum ab 1.200 v. Chr., den ersten sexualwissenschaftlichen Erkenntnissen einer Gruppe osteuropäischer Hirten und dem gesellschaftlichen Neubeginn im Zuge der Völkerwanderungen.
All das ist wichtig, um zu verstehen, warum Schönheit heute eine so wichtige Rolle bei uns Frauen spielt: Warum machen wir unseren Töchtern Komplimente für ihr Aussehen und loben unsere Söhne eher für ihre Fähigkeiten? Warum betrachten wir uns selbst so kritisch im Spiegel und geben so viel Geld für Make-up und Kleidung aus? Die Antwort auf diese Fragen beginnt in der Vergangenheit.
Mit dem Klima ändert sich nicht nur das Wetter
Am Ende der Bronzezeit veränderte sich das Klima. Naturkatastrophen und Dürren beeinträchtigten die Landwirtschaft und Hunger breitete sich aus. Mehr und mehr mussten unsere Vorfahren sich auf die Viehhaltung konzentrieren, um zu überleben.
Die Beobachtung der Herden führte zu einem Aha-Effekt – und einem kulturellen Umsturz.
Der Fortbestand der Herde wurde lebenswichtig und entsprechend genauer beobachteten die Hirten das Tun und Treiben ihre Tiere. Dabei fanden sie auch heraus, dass ein weibliches Tier nur dann trächtig wurde, wenn es sich zeitnah vorher mit einem Männchen gepaart hatte. Eine bahnbrechende Erkenntnis! Die Hirten (die männliche Endung verwende ich bewusst, denn es waren eher die Männer, die sich um die Tiere kümmerten) erkannten: Wenn Säue, Kühe und Zicken nicht ohne Eber, Stier oder Bock Nachwuchs bekamen, dann würde es bei den Menschenfrauen wohl nicht anders sein. Peng! Frauen empfingen die Kinder nicht von der Großen Mutter – der Mann erst machte sie! Sie gehörten nicht der Gemeinschaft, sondern zu ihm. Es waren seine Kinder.
Der Vater und seine Kinder
Empfängnis und Schwangerschaft waren mit diesem Aha-Moment entzaubert. Die Magie war dahin, und in diesem Augenblick verloren auch die Frauen ihren göttlichen Moment und das Matriarchat eine ihrer zentralen Säulen.
Der Wendepunkt vom egalitären Matriarchat zum machtzentrierten Patriarchat war gekommen: Durch Klimaveränderung und Mangel mussten die Menschen um ihr Überleben kämpfen und dabei entstanden Konflikte, die nicht länger friedlich durch Verhandlungen gelöst werden konnten. Die für das Überleben so wichtigen Herden vergrößerten sich, brauchten mehr Futter und Raum, so dass sich benachbarte Clans und Stämme zunehmend in die Quere kamen. Friedliche, unbewaffnete Völker flohen vor bewaffneten Gruppen. Streitereien und die Suche nach einem besseren Ort zum Leben führten zu Völkerwanderungen, welche die festen, sesshaften Strukturen aufbrachen.
Das Prinzip der matriarchalen Gemeinschaft zerbrach und die Frauen verloren ihr Ansehen.
Die Gemeinschaften waren gezwungen, das seit Generationen behütete Land zu verlassen. Damit verloren die Frauen ihre wichtige Stellung als Verwalterinnen dieses Landes und die zweite Kernsäule des Matriarchats löste sich auf.
Das Prinzip der Gemeinschaft zerbrach. Und während in der alten Zeit Einzelpersonen – ob männlich oder weiblich –, die das Sagen an sich reißen wollten, von der Gruppe zurück auf ihren Platz verwiesen wurden, konnte jetzt das Individuum ungebremst nach vorn drängen, um seinen (Überlebens-)Vorteil zu sichern.
Und dieses Individuum war männlich.
Not all Men, nicht wahr?
Das Patriarchat wird heute oft mit einem aktiven Putsch aus purer Machtgier konnotiert. Susanne Mierau, ‘Geborgen Wachsen’-Bloggerin und Autorin, schreibt dazu allerdings: “Wenn wir davon sprechen, dass das ‘männliche Geschlecht’ die Gesellschaft nach seinen Bedürfnissen geformt hat, müssen wir allerdings mit dem Gedanken vorsichtig sein, dass dies jederzeit aktiv oder gar böswillig passiert sei.”
Männer hatten schon im Matriarchat dem Schutz der Gemeinschaft gedient, wenn auch Konflikte eher durch Verhandlungen gelöst wurden. Jetzt gewannen im entstehenden Häuptlingswesen die reine körperliche Überlegenheit, kriegerischer Wille und purer Machthunger an Wichtigkeit.
Egoistische Instinkte und Impulse bestimmten zunehmend darüber, wer überlebte und wer nicht. Die Gemeinschaft funktionierte als Schutzschild nicht länger und der individuelle Besitz wurde wichtig: Je mehr Bewegung in die Völker kam, desto eher musste das, was man mit sich tragen konnte, vor dem Zugriff fremder Gruppen bewahrt werden.
Privatbesitz, Dominanz, Gewalt – ab jetzt zählt das Individuum.
Privatbesitz, Dominanz, Gewalt: Nichts davon hatte im Matriarchat die besondere Stellung der Frauen gekennzeichnet. Die neue Lebenssituation erwischte sie also ziemlich unvorbereitet und nach dem Verlust ihres angestammten Landes blieb ihnen nur die Fähigkeit, Kinder zu gebären. Und ohne das göttliche Mysterium war dies nicht einmal mehr eine verehrenswerte Eigenschaft wie zuvor, sondern eine rein biologische Leistung, die sie mit dem weiblichen Vieh gemein hatten.
So wie die Herde das Überleben des Mannes sicherte, sollte die Frau mit dem Nachwuchs nun seine Nachfolge sichern.
Vom Zentrum zum Eigentum
In den zersplitterten Gruppen veränderte sich alles:
- Während das Land und der sonstige Besitz zuvor von der Mutter zur Tochter weitergegeben worden war (Matrilinearität) und die Tochter “daheim” geblieben war (Matrilokalität), galt nun das Prinzip der Patrilokalität und Patrilinearität: Der Sohn erbte die Güter des Vaters und die Tochter verließ bei Heirat das Haus ihrer Eltern, um bei ihrer neuen Familie zu wohnen. Dort war sie für den Haushalt zuständig, bekam Kinder und kümmerte sich allein um den Nachwuchs.
- Denn anders als früher zogen nicht mehr alle Erwachsenen gemeinsam die Kinder der Gemeinschaft groß. Stattdessen war es wichtig, die patriarchale Linie “rein” zu halten und auf keinen Fall genetisch fremde Bastarde durchzufüttern, die dann womöglich auch noch den väterlichen Besitz erben würden. Das Liebesleben musste also monogam sein – vor allem das der Frauen. Denn nur so ließ sich die Reinheit der Erbfolge sichern.
- Die weibliche Sexualität wurde nun gewaltsam kontrolliert. Frauen wurden als Kriegsbeute mitgenommen, zwischen den einzelnen Gruppen getauscht und ohne ihre Zustimmung verheiratet und bei Eroberungen vergewaltigt.
- Ihre ehemals starke Stimme in der Gesellschaft hatte sich der ihres Ehemannes unterzuordnen: Die Frau wurde zum Eigentum eines einzelnen Mannes und zur “Handelsware”.
- Der Wert einer Frau bemaß sich nach ihrer Fruchtbarkeit – und an ihrem Äußeren. Ein hübsches Mädchen ließ sich leichter verheiraten, gegen höhere Werte eintauschen, wurde lieber im eigenen Bett gesehen und war als Trophäe vorzeigbarer. So begannen Frauen, sich so “schön” wie möglich zu machen – aus reinem Überlebensinstinkt.
Eigentum sein und zum Gefallen eines Mannes leben? Das lässt sich wohl keine Frau gefallen, die gerade eben noch verehrte Verkörperung der Großen Göttin und matriarchale Hüterin der Mutter Erde gewesen ist.
Dafür brauchte es die vollständige Entmachtung der Frauen. Und dazu war mehr nötig als ein naturwissenschaftlicher Aha-Moment irgendwo auf einer Steppenweide in Osteuropa.
Es brauchte einen Gott. Und weiter geht es mit Teil 3: “Das Ende der heiligen Weiblichkeit”.
* Das Thema Schönheit ist komplex, oft belastend und tief in unserer Kultur verwurzelt, gerade bei Frauen und Mädchen. Aus meiner Recherche für diesen Post ist inzwischen ein größeres Projekt entstanden. Schau doch mal rein bei “Wir sind schön”.