36.

Wenn ich Iron Maiden höre, muss ich immer an früher denken. Laute Musik, viel davon, nächtelang tanzen und Dinge tun, die man Fehler nennen könnte, oder Erinnerungen.

Wann sie beschlossen habe, einfach nur völlig normal zu sein, lässt die amerikanische Autorin Anne Tyler in Kleine Abschiede die heranwachsende Tochter ihre Mutter fragen. Die Mutter ist schwer gekränkt von dieser Aburteilung auf Mittelmäßigkeit, aber ich könnte die Frage ganz genau beantworten: Seitdem ich für dich da sein will, mein Fips.

Trotzdem – wenn ich Iron Maiden höre, denke ich an früher und werde ein wenig sehnsüchtig. Und wenn der Geburtstag sich nähert, denke ich sowieso mehr darüber nach, was das Leben bisher so mit sich gebracht hat. Was ich erreicht habe. Und nach was habe ich eigentlich Sehnsucht? Nach einem anderen Leben? Würde ich etwas ändern wollen? Wo wäre ich jetzt, wenn ich andere Pfade eingeschlagen hätte?

Vielleicht wäre ich in einer anderen Stadt gelandet. Doch welche Stadt hätte ich mehr lieben können als mein Berlin? Welches Pflaster hätte besser sein können, um die freien Jahre zu genießen und mein Ding zu machen? Oder etwa ins Ausland – ich? Haha, vermutlich eher nicht. Da hätte ich schon an etlichen Ecken anders abbiegen müssen.

Vielleicht hätte ich einen anderen Job. Aber da habe ich ebenso wenig Bedarf wie nach einer anderen Stadt. Ich habe vor zehn Jahren hart dafür gekämpft, meinen beruflichen Weg noch einmal zu ändern, und ich bin sehr glücklich da, wo ich nun angekommen bin. Senior Copy Writer, niemals wollte ich etwas anderes sein. Obwohl es schön wäre, nochmal ein Buch zu schreiben – aber das hat nichts mit der Vergangenheit zu tun, sondern eher mit der Zukunft.

Vielleicht hätte ich einen anderen Mann. So was denkt man ja manchmal, wenn Probleme auftauchen. Doch hier habe ich zum Glück schon vor ein paar Jahren gelernt, dass es Probleme immer gibt. Egal, mit welchem Traumtypen oder Knallkopf. Die Probleme gehören dazu – nur kann man manche bewältigen und manche nicht. Jeder hat Macken, nur manche passen besser zu den eigenen als andere. Und der, mit dem ich Iron Maiden hörte, war keine Garantie auf besser. Maximal anders gut, aber dann hätte ich auch nur Glück gehabt. Und all die anderen?? In die Kiste mit ihnen. Die Guten ins Köpfchen, die anderen ins selige Vergangensein.

Vielleicht hätte ich ein anderes Haus. Oder – Gott bewahre, kruzitürken! – eine Wohnung! Nun, die zweite Option wäre ganz eindeutig nicht besser als die eigenen vier Wände samt Dach und Garten, die ich mir immer gewünscht habe. Und ein anderes Haus? Ich mag unsere Nachbarschaft, unsere Gegend, unser Grundstück. Das alles gibt es woanders sicher auch in genauso gut, aber ich habe keinen Grund zu tauschen.

Vielleicht hätte ich ein anderes Kind. Das ich sicher genauso lieben würde wie Fips, denn ich wüsste ja nichts anderes. Aber das ist ein überflüssiger Gedanke: Ich bin ausnahmslos froh, keine eiserne Jungfrau zu sein und ganz genau das Fipskind zu haben, was ich habe.

Vielleicht hätte ich ein anderes Ich. Vielleicht wäre mein innerer Frieden tiefer, meine Haut glatter, meine Seele leichter. Vielleicht ist es das, was mir ein wenig zu schaffen macht. Wenn ich Iron Maiden höre, fühle ich die Weite – das Wissen, dass das ganze Leben noch vor mir liegt und die Weichen noch nicht gestellt sind. Alles ist möglich. Aber irgendwo, tief im Herzen, erinnere ich mich auch noch daran, wie schrecklich unsicher sich das anfühlte. Heute bin ich angekommen, zumindest was Haus-Kind-Gartenzaun angeht.

Richtig bei mir angekommen bin ich noch nicht. Ich suche immer noch. Aber ich suche nicht mehr nach dem Anderen – ich suche in dem, was da ist. Und manchmal fühlt sich das verflucht klein an. Einsam, begrenzt und elend.

Und ich glaube, das ist das, was ich ändern möchte. Das ist der Punkt, auf den die Sehnsucht zielt: Ich möchte wieder die Weite atmen. Ich möchte die Freiheit spüren, die sich daraus ergibt, dass man lebt, was man liebt, und es weiß.

Das möchte ich.

Mit Normalität habe ich kein Problem. Ich bin eine ganz normale Mama. Windeln und Arbeit, Kuscheln und Kochen, Trösten und Kämpfen. Ob meine Haare pink sind oder rot, ob meine Hosen zerrissen sind oder heil, ob ich der Freak bin oder unsichtbar – der Rhythmus ist kein Neuer. Haus, Kind, Gar-ten-zaun. That’s the way it goes. In diesem Leben, und auch in jedem anderen wäre es so. Und irgendwie tröstet mich das.

Happy Birthday to me – und ich denke, ich habe es bis hierher doch ganz gut gemacht.

2 Gedanken zu “36.

  1. Steffi schreibt:

    … und schon wieder ein Text von dir, der mir aus der Seele spricht 🙂 ich habe relativ früh geheiratet und mich auch schon oft gefragt, ob und wie alles anders geworden wäre und sein könnte – dabei mag ich mein Leben mit Haus, Kind und und unserem Fall Hof! Bei mir wird die Sehnsucht bzw Erinnerung allerdings weniger durch Musik, als durch Lagerfeuergeruch ausgelöst ^^ Aber eigentlich ist es schon gut so, wie es ist, eigentlich… Liebe Grüße und happy Birthday nachträglich, Steffi
    PS: Ich mag übrigens deinen Schreibstil, ich wünschte ich könnte das nach. Meiner ist irgendwo in der vor-Kind-Zeit verlorengegangen

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  2. Jo schreibt:

    Liebe Sabine,
    zuerst einmal Happy Birthday nachträglich!
    Das „Was wäre, wenn…“-Spielchen kennt, denke ich, jeder. Aber es gab auch mal jemanden in meinem Leben, der den Satz prägte „Hätte, wäre, könnte – dat Leben is kein Konjunktiv!“ und damit hat dieser Mensch (manchmal leider) recht. Somit sind solche Gedankenspiele zwar manchmal ganz interessant aber im Großen und Ganzen eigentlich sinnlos. Ich habe gemerkt, dass mich diese Sehnsucht meist nur unglücklich macht und dementsprechend beschlossen, mich nicht mehr zu sehr in diesen Träumereien zu verlieren.
    However, ein Punkt, an dem ich bei Deinem Text allerdings nicht mehr mitkomme: An welcher Stelle des Lebens wird einem denn gesagt, dass man als Mama „normal“ zu sein hat? Tatsächlich falle ich wohl eher unter die selbe Kategorie, wie die von Dir zitierte Autorin und wäre zutiefst getroffen, würde man mir sagen, dass ich „normal“ geworden sei, seit ich ein Kind habe. Gemäßigter? Ja, vielleicht. Aber von normal immer noch meilenweit entfernt und ich hoffe doch sehr, dass ich das auch bleibe. Ich finde es ganz furchtbar, mit ansehen zu müssen, wie aus den Punks, Metalheads, Gothics in meinem Umfeld plötzlich aalglatte gleichgeschaltete und gähnend langweilige Muttis (und Vatis) werden. Warum sollte ich plötzlich nicht mehr anders sein, nur, weil ich jetzt ein Kind habe? Klar, das Kind ändert mein Leben, aber es ändert doch nicht mich. Also… Schon, aber doch nicht SO. Ich mag doch immernoch Maiden, Manowar oder bösen, gewaltverherrlichenden, menschenverachtenden Elektro (super, um Aggressionen abzubauen). Und ich finde, ich habe auch ein Recht, diese Musik zu hören, mitzugröhlen und mir dabei meine Zehennägel schwarz zu lackieren. Gut, die ohrenbetäubende Lautstärke ist einer kindgerechten Lautstärke gewichen (siehe gemäßigt), aber ansonsten… Wieso denn auch nicht? Wieso sollte ich denn nicht weiter in einem fröhlichen Schwarz durch die Gegend laufen? Wieso sollte ich micht nicht an meinem Drachenschädel im Wohnzimmer und dem Dekoschwert an der Wand erfreuen?
    Das ist jetzt sehr viel Text geworden, sorry, aber dieses Thema „Normalität“ treibt mich ziemlich um und ist mir irgendwie wichtig – vielleicht, weil ich auch immernoch auf der Suche nach mir selber und meinem Platz bin in diesem neuen, anderen Leben mit Sohnemann.
    Liebe Grüße, Jo

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