Ist es das wert…? Eine Playlist

Heute ist kein guter Tag. Mir geht’s nicht gut. Die Hausbaustelle kostet mit immer neuer Ungewissheit, mit immer neuem nicht-jetzt-aber-bald-vielleicht die letzten Reste an Kraft, die die letzten Monate noch nicht aufgezehrt haben. Siebenundzwanzig Grad bis nach Mitternacht in der engen Dachwohnung. Keine Luft zum Atmen. Auf dem Weg zum Esstisch stößt man sich die Knie blau am Laufstall, auf dem Weg zum Wickeltisch stolpert man sich die Zehen blutig am Bettpfosten.

Immerhin: Fips wächst und gedeiht – aber nur in Mamas Nähe. Nicht telefonieren, nicht weggehen, nicht putzen, nicht haushalten, nicht essen und manchmal nicht mal trinken geht. Muss aber gehen. Und geht auch, irgendwie, verdammt.

Aber die Reserven schwinden. Scheinen bereits gänzlich leer an manchen Tagen. Heute sind sie leer. Ich bin müde. Mein Rücken ist müde vom ständigen Hopse-Hopse eines 10-Kilo-Energiebündels, vom nächtelangen Stillen in Seitenlage, vom fehlenden Sofa. Mein Kopf ist müde. Leere wünsche ich mir. Ruhe. Zeit, um MICH mal wieder zu bündeln, um Luft zu holen, um die verdammt benötigte Kraft zu finden, um einfach weiterzumachen, bis wenigstens die Wohnsituation endlich geklärt ist.

Denn Ausrasten ist keine Option. Ausrasten hilft ja nicht. Nur Durchhalten hilft.

Irgendwie stehle ich mir eine Abendstunde. Fips schläft, endlich. Und hoffentlich bleibt es so, denn ich muss dringend zurück zu mir. Mit schlechtem Gewissen und Kopfhörern verstecke ich mich in der einzigen Ecke, die noch nicht mit Umzugskartons blockiert ist und in der man sich auch sofalos halbwegs ausstrecken kann. Ich öffne Spotify und beginne mit Disturbed, Down With The Sickness. Schmerzgrenzlaut fetzt es durch mein Hirn, mein Herz. Dann Motörhead, The Game. Limp Bizkit, Break Stuff. Langsam atme ich auf. Danko Jones, Code Of The Road. Take Me Home (To Where My Records Are).

Ich scrolle durch Playlisten und erinnere mich wieder. Ich erinnere mich an die Person, die diese Listen zusammengestellt hat. The Carburetors, All Alone. Ich erinnere mich an Wut und Freude, an Tanzlust und Tanzschweiß, an lange Nächte und frühe Morgen, an Traurigkeit und Liebe. Ich erinnere mich wieder an Sabine. An die Sabine, die keine Mama war. An die Sabine, die geschrieben und getanzt und zu geliebten Songs falsch gesungen hat (okay, letzteres mache ich immer noch… und zwar noch häufiger als früher). Ich erinnere mich an mich.

AC/DC, Shot Down in Flames. The Kinks, Sunny Afternoon. Elle King, Ex’s & Oh’s. Es wird. Es wird wieder. Von irgendwoher kehren Zuversicht und Frieden zaghaft zurück in meine müde Seele. Frank Turner, I Still Believe.

Ich drehe die Lautstärke herunter. Von schmerzgrenzlaut zu trommelfelltauglich. Mein Herz dehnt sich vorsichtig, erleichtert. 17 Hippies, Deine Tränen. Annenmaykantereit, Jeden Morgen. Ich weiß, ich werde noch lange nicht wieder tanzen gehen. Vielleicht tanze ich nie wieder. Und wenn, dann werde ich schon bald die bemitleidenswerte Alte sein, die verloren im zwischen kicherndem Jungvolk in der alten Lederjacke headbängt und noch vor dem nächsten Morgen grausame Nackenschmerzen hat. Und wenn nicht so, dann wird doch mein Kleid nicht mehr fliegen, weil die guten Tanzpartner längst vergeben sind und meine vergesslichen Füße den Takt nicht mehr finden.

Ich weiß, ich werde noch lange nichts mehr schreiben. Vielleicht einen Blogbeitrag hier und da, ja, na ja, und ich werde auch wieder mit Text mein Geld verdienen. Aber einen Roman? Die Ideen gären in meinem Kopf, doch sie werden entweder warten müssen oder verschwinden. Denn es ist eine Zeit angebrochen, der ich in meinem Leben niemals Raum geben wollte. Aber hier ist sie, die Zeit der unausgeführten Pläne. Sum 41, So Long Goodbye.

Diese Zeit ist hier, weil das Leben hier ist. Ich wollte Mutter werden und ich bereue diese Entscheidung nicht, nicht für einen Moment. Ich vermisse Dinge, oh ja. Und ich vermisse oft genug auch mich selbst. Und es wäre zu leicht zu schreiben, dass ein Lächeln eines erdbeersaftverschmierten Mäulchens-mit-zwei-Kuchenzähnen alles aufwiegen würde. Es wäre zu leicht zu sagen, dass ich für ein Strahlen dieser wundervollen Sternenaugen alles, wirklich alles tun würde. Rise Against, Savior.

Aber verdammt (noch einmal)! Trotzdem ist es so. Weil beides nicht vergleichbar ist! Es sind zwei Seiten einer Münze, und es kann nur eine davon oben liegen. Die Leichtigkeit, die ich empfunden habe, wenn ich mit brennenden Tanzfüßen in frühen Morgenstunden nach Hause in mein kühles Bett schlich… wenn ich mutterseelenallein stundenlang und weltvergessen Geschichten in die Tastatur tippte… wenn ich mich am Rand eines tobenden Menschenknäuels mit schweißnassem Rücken an die Wand eines Konzertsaals presste… diese Freiheit und Lebendigkeit war etwas vollkommen anderes als das, was ich nun in den Babyzeiten meine Glückssekunden nenne.

Der warme Popcornduft von Babyhaar, das dreckige Lachen im Treppenhaus, die fröhlichen Quiekser und das freundliche Gebrabbel am frühen Morgen… das ist nicht wenig, das ist sogar ganz schön viel. Genau wie das Mama-Sein.

Aber ist es das wert?

Darauf gibt es keine Antwort. Denn die Frage existiert nicht. Im Neuen lässt sich nicht nach altem Leben fragen. Denn der Duft, das Lachen, das Brabbeln, all das füllt eine neue Herzstelle. Eine, die es früher nicht mal gab. Andere Herzstellen dagegen bleiben leer und werden alt. Berliner Weisse, Zu alt zum Pogo.

So ist es, so ist es nun mal. Vielleicht kommen andere Tage – hoffentlich kommen sie! Ich werde dafür sorgen, denn sonst bin ich nach Fips‘ Auszug someday wirklich nur noch eine komische Alte in einer abgewetzten Lederjacke.

Fiva & das Phantom Orchester, Die Städt gehört wieder mir. Und das mit dem Haus wird spätestens bis dahin wohl doch auch noch was werden, zur Hölle!

PS: Hier ist übrigens meine Seelenretterplaylist zum Nachhören.

8 Gedanken zu “Ist es das wert…? Eine Playlist

  1. Jo schreibt:

    Hallo Sabine,
    bisher war ich nur stille Leserin, aber nun *muss* ich mich einfach einmal äußern: DANKE!
    Du fasst mit diesem Beitrag in Worte, was ich mich nur zu denken traue. Mein Umfeld würde es kaum verstehen. Mein Kleiner ist einen Monat jünger als Fips, hängt derzeit an mir wie eine Klette und ich weiß nicht, wie oft ich um Mitternacht im Wohnzimmer unserer Dachwohnung sitze, wenn er endlich, endlich schläft und mich frage, wie ich bloß wieder zu mir finden soll. Musik hilft oft aber leider nicht immer, denn es sind so viele Stellen, an denen mein altes Ich derzeit zu kurz kommt. Und trotzdem würde ich mein kleines Monster für kein Geld der Welt wieder hergeben.
    Aber genug gejammert, was ich eigentlich sagen will ist: Es tut verdammt gut zu lesen, dass man damit nicht alleine ist. Und dass sich jemand traut, auch die unschöneren Seiten des Mama-Daseins zu benennen, die eben existieren, auch, wenn man sein Kind über alles liebt. Und vielleicht hilft es Dir ja auch ein wenig, diese Worte hier zu lesen. Hallo! *winkt* Mir geht’s wie Dir, aber irgendwie schaffen wir das schon! Und irgendwann kommt auch wieder Zeit für das alte Ich. Ganz, ganz sicher!
    Liebe Grüße aus dem sonnigen und schier unerträglichen heißem BaWü.

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    • Sabine Wirsching schreibt:

      Wow, liebe Jo, vielen Dank für deinen lieben Beitrag!! Es hilft tatsächlich… man denkt ja immer, es täte der Liebe Abbruch, wenn man so fühlt… (dabei WEISS man tief im Herzen ja, dass dem nicht so ist). Und ja, wir schaffen das. Irgendwann wünschen wir uns vielleicht sogar mal wieder ein paar Momente Klettigkeit zurück… vielleicht 😉 Ich hoffe aber, dass wir uns einfach so mal wieder im Frieden finden und aufgetankt in den nächsten Tag starten können. Alles Liebe aus dem ebenfalls überheizten Berlin!

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  2. Ida Eschrich schreibt:

    Ich kenne das, was du beschreibst, auch sehr gut! Mein kleiner ist bald 9monate alt. Ich vermisse es, in Ruhe Musik zu machen und tanzen gehen, unbeschwert, das fehlt mir auch!
    Aber so langsam mag ich auch mein Mama-Ich und in gar nicht allzu langer Zeit, wenn die kleinen dann auch mal länger bei der Oma oder sonst wen sein können (und es Ihnen auch richtig gut gefällt) dann bekommt man wieder mehr Freiheiten.
    Die ersten Jahre sind wohl die „schwierigsten“ und ich wette, man wird trotzdem wehmütig auf sie zurück blicken;)
    Viel Freude dir und allen anderen für diese aufregende Zeit ❤

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